Die Tagespresse trauert um ORF.at


Die Redaktion gibt einen schweren Verlust bekannt:

ORF.at

*  24.07.1997  † 31.12.2023

Die beliebte blaue Seite wird in den frühen Morgenstunden des Neujahrstags nach langem, qualvollem Hickhack von den Besitzern eingeschläfert, friedlich vom Netz gehen und durch eine zusammengestutzte Mini-Version ersetzt, die den Vorgaben des neuen ORF-Gesetzes entspricht. Dieses schreibt eine Beschneidung der Artikelanzahl um fast zwei Drittel vor und zwingt den ORF, aus der blauen Seite de facto einen YouTube-Kanal zu machen.

Österreich wird nie wieder so sein wie zuvor. Die blaue Seite, wie wir sie kennen, verlässt uns. Ab 1. Jänner dürfen nur mehr 350 Textmeldungen pro Woche erscheinen, 70 Prozent des Gesamtangebots müssen aus Videobeiträgen bestehen, die Begleittexte dazu dürfen nicht länger sein als dieser eine Absatz hier. Überprüft wird das von einer eigenen Buchstabenzähl-Redaktion.

Erkämpft hat diese Beschneidung nach jahrelangem Druck der Verband Österreichischer Zeitungen, kurz VÖZ. Den Zeitungen ist ORF.at schon immer ein Dorn im Auge gewesen: man braucht nicht noch einen Player am Markt, der auf seiner Startseite APA-Meldungen zusammenkopiert. Die textlastige blaue Seite ist jetzt Geschichte. Dafür muss der Fernsehsender ORF jetzt das tun, was er am schlechtesten kann: Videos machen.

VÖZ für Dummies

Doch wer oder was ist eigentlich dieser VÖZ? Der VÖZ ist eine Selbsthilfegruppe der Eigentümer großer Printmedien (Krone, Kurier, Standard, Presse, Kleine Zeitung, Falter, Profil, usw.). Regelmäßig trifft man sich in verrauchten Salons, richtet sich sorgenvoll das Monokel am Auge und versucht mit geeinten geriatrischen Kräften, den unvermeidlichen Niedergang des eigenen Geschäfts um ein oder zwei Wochen hinauszuzögern. Insider sprechen von der sogenannten Printlobby*.

*Für die unter 40-Jährigen: „Print“ ist bedrucktes Papier, auf dem Sie für einige hundert Euro pro Jahr die APA-Meldungen vom Vortag lesen können.

ORF.at ist schon seit Jahren im Visier der Printlobby. Der VÖZ macht in der Dominanz der blauen Seite den Schuldigen für die aggressive Mittelmäßigkeit ihrer Online-Auftritte aus. Dass ORF.at so viel mehr Klicks als jede andere Nachrichtenseite Österreichs verzeichnet, hat laut VÖZ ausschließlich mit den Gebührengeldern für den ORF zu tun. Aber ganz bestimmt nichts damit, dass ORF.at nüchtern berichtet, auf Clickbait verzichtet, keine Fullpage-Werbungen auf der Startseite schaltet, wo sich der Mauscursor in ein Ei, einen Kärcher oder ein Auto verwandelt, und einfach nur sachlich erklärt, was in der Welt passiert – statt wer aller in einer U6-Station Seil hüpft. Oder mit dem Sofa in der U-Bahn fährt. Oder mit zwei Matratzen. Oder mit einem Spiegel. 

Doch dann geschah ein Wunder: Die Mitglieder des VÖZ rissen sich am Riemen und entwickelten hochwertige Online-Produkte und investierten in Journalismus mit Public Value, nicht zu unrecht gilt Der Standard heute als die „New York Times Österreichs“ und oe24.at als die „New York Times Disneylands“. ORF.at wurde schließlich durch Innovation und gute Arbeit das Wasser abgegraben und…

Na, Scherz.

Wir sind hier immer noch in Österreich. Wer bei uns einen Konkurrenten ausschalten will, nimmt sein Handy, wählt die richtige Nummer und setzt den einen oder anderen Hebel in Bewegung.

So geschah es auch im Falle ORF. Heraus kam ein Gesetz, das darauf abzielt, das meistgenutzte journalistische Qualitätsprodukt Österreichs signifikant zu schwächen. Das ist in etwa so, als würde der Verband der Wiener Fiaker durchsetzen, dass die U-Bahn nur mehr einmal pro Stunde fahren darf, damit mehr Touristen eine Kutsche nehmen.

Millionenförderungen

Es stimmt zwar, dass ORF.at ohne Zuschüsse aus den Gebühren nicht bestehen würde, denn auch eine blaue Seite mit dem Design aus 1997 kostet irgendwie halt immer noch Geld. Was der VÖZ verschweigt: Auch die VÖZ-Mitglieder kassieren Jahr für Jahr hunderte Millionen Steuergeld in Form von öffentlichen Inseraten, die sowohl in Print als auch online erscheinen. 

Die Regierung schüttete heuer außerdem erstmals eine „Förderung der digitalen Transformation“ aus. Das ist ein Geldtopf prall gefüllt mit mehreren Millionen Euro, der seit 2022 jährlich an heimische Medien ausgeschüttet wird.

So wurden etwa Eva Dichand 5,7 Millionen Euro bewilligt, darunter 168.000 für „Schulungen im digitalen Journalismus“. Christoph Dichand durfte sich über 11 Millionen freuen, darunter 272.000 Euro für die „Digitalisierung von Arbeitsabläufen“. Wolfgang Fellner ist zwar kein VÖZ-Mitglied (nicht einmal der VÖZ wollte ihn als Mitglied, wogegen Fellner erfolglos vor Gericht zog), bekommt aber ebenfalls 6 Millionen nachgeworfen, darunter 300.000 Euro für einen „Newsletter“ und 400.000 für eine „Conversion Strategy E-Paper Abos“.

Sogar die Raiffeisenzeitung, die es übrigens wirklich gibt, darf sich über 58.000 Euro freuen für den „Aufbau einer Digitalredaktion“ (Installation von WordPress auf der Website). Zum Vergleich: Der Aufbau unserer Tagespresse-Digitalredaktion hat 82 Euro gekostet (Domain und Webspace für ein Jahr).

Keine Sorge: Alle anderen haben auch was bekommen, wir waren nur zu faul, das auszurechnen. Wer was zum Lachen haben will, die Entscheide sind öffentlich einsehbar.

Lobbyistische Brechstange

Völlig überraschend haben diese üppigen Zuwendungen aus dem öffentlichen Füllhorn bisher nicht die erwartete kambrische Explosion des Journalismus herbeigeführt. Daher griff der VÖZ zur lobbyistischen Brechstange. Anstatt an sich selbst zu arbeiten, ist es schließlich viel einfacher, andere auf sein Level herunterzuziehen.

Die Lage der VÖZ-Mitglieder ist alles andere als rosig. Jahr für Jahr lukrieren Österreichs Medien weniger Werbegelder. Eine beunruhigende Entwicklung in einer Zeit, in der guter Journalismus so wichtig wäre. Der VÖZ hegt nun die Hoffnung, dass er dem ORF ein Bein abschneiden kann, das dann bei ihm nachwächst.

Doch die frischen Werbegelder wandern nicht vom Küniglberg in die Muthgasse, sondern reisen über den Ozean nach Kalifornien ins Epizentrum des Daten-Goldrauschs. So wie alle anderen Werbegelder auch. Der Druck des VÖZ stärkt also einzig und allein die wachsende Marktdominanz von Google, Facebook und Co. 

Fazit

Während Österreichs Medienlandschaft ein Stück karger wird, damit sich das VÖZ-Präsidium zu seiner Genialität gratulieren lassen kann, steigen die Aktien von Mark Zuckerberg, Larry Page oder Jeff Bezos dank der neuen Werbeumsätze aus Österreich um weitere 0,0001%. Und obwohl sich der VÖZ so für ihre Interessen einsetzt, müssen sie nicht einmal Mitgliedsbeiträge zahlen.

Das ORF-Gesetz tritt in etwas mehr als 48 Stunden in Kraft. ORF.at hinterlässt fünf Millionen trauernde Leser:innen. Es wird um die Sendung von Blumenkränzen an das Büro des VÖZ gebeten, wo die blaue Seite beigesetzt wurde und jene, die sich gern lautstark über den Journalismus in Österreich sorgen, auf dem Grab herumtanzen.

Prosit Neujahr und Ruhe in Frieden!

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  1. Wenn es im Haubenrestaurant jeden Tag Grießbrei mit Maggi gibt, dann braucht sich der Wirt nicht wundern, wenn seine Gäste scharenweise zum Laberlstand laufen.

    PS: Der FALTER ist zwar Mitglied im VÖZ, Armin Thurnher war aber einer der leidenschaftlichsten Befürworter der blauen Seiten. Aber wie so oft: wenn die Dummen in die falsche Richtung rennen, steht der Kluge einsam in der Wüste.

    1. Möglich, dass Thurnher ein starker, unabhängiger ORF wichtig war.
      Der Standard als Zeitung hat jedenfalls fast federführend für die Schwächung des ORF gekämpft.
      Trotz des hohen Niveaus, deshalb nicht meine Zeitung mehr.

      1. Ich war 20 Jahre lang Poster im Standard. Als 2019 alles was Kurz-kritisch war gelöscht worden ist, war ich knapp daran und als dann im Zuge des Ukraine-Kriegs schon die Verwendung des Begriffs „NATO“ zur Löschung von Postings führte, egal ob sachlich fundiert, dann war es aus zwischen dem Standard und mir. Ich komme ganz gut ohne Standard aus. Ob auch der Standard auf die Dauer ohne Leser auskommt, das ist eine andere Frage.

      2. Kurz-Fan nicht direkt, nennen wir es „vorauseilender Gehorsam um den Fleischmann nicht zu vergrämen und so auch vom Inseratenregen zu profitieren“

      3. Der Standard war mal ein wirkliches Qualitätsmedium.
        Steigt aber leider laufend die Niveautreppe stetig, aber bestimmt,abwärts.
        Oft kommen Beiträge in Bild-Zeitungsniveau.
        Die Farbe der Printausgabe passt immer zu dem Papier auf der Rolle zum Abreissen am Häusl, passend zum Niveau. Schade.

    2. „Wenn es im Haubenrestaurant jeden Tag Grießbrei mit Maggi gibt, dann braucht sich der Wirt nicht wundern, wenn seine Gäste scharenweise zum Laberlstand laufen.“ Gehört den Schwürkisen und dem VÖZ ins Stammbuch geschrieben …

      1. … oder die Satire auf dem Link „die Entscheide sind öffentlich einsehbar“ – das was man dort liest kann aber jetzt nicht wahr sein, hinter dem Link steckt doch hoffentlich eine Satire-Seite, die Ihr in der Tagespresse-Redaktion ausgeheckt habt, oder?

      2. Die öffentlich einsehbaren Entscheide sind selbstverständlich Satire. Keine Behörde, die bei Trost ist, würde dem Satireblatt heute.at irgendwelche Förderungen in den *rsch schieben.

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