Printmedien haben wenig zu feiern: Seit 20 Jahren sinken die Auflagen, Abos und Umsätze kontinuierlich, Druckerpapier wird immer teurer, die Egos von Chefredakteuren immer größer. Die letzten beiden verbliebenen Feiertage des Jahres sind die Erscheinungstage der Media-Analyse. Sie liefern euphorische Zahlen zur Reichweite, die der Regierung als Grundlage für die „anerkannt objektive Vergabe von Inseraten“ (Zitat: Sebastian Kurz) dienen.
Gestern war es wieder soweit. Dutzende OTS-Meldungen verkünden die neuen Zahlen der Media-Analyse. Wie jedes Jahr: Ein großer Erfolg. Ekstase pur, quer durch alle Zeitungsredaktionen. Zwar schrumpft die Leserschaft der Printmedien erneut, aber das macht nichts. Denn es gibt auch gute Nachrichten: Die Leser:innen teilen ihre Zeitungen leidenschaftlich gerne.
Sharing is Caring
So wird jedes einzelne Exemplar der „Kronen Zeitung“, und alle Inserate darin, von durchschnittlich fast drei Personen gelesen. Die Presse lesen 3,7 Leute, sogar den Kurier immerhin 3,2. Einsamer Spitzenreiter ist der Standard: er kommt auf 6,8 Menschen, die jedes einzelne gedruckte Exemplar lesen – durchschnittlich.
Durchschnitt bedeutet: Zu einem großen Teil der Exemplare greifen sogar noch mehr Menschen. Für jeden Single-Haushalt, in dem nur ein Mensch den Standard liest, braucht es eine 14-köpfige Familie, in der vom Baby bis zum Opa alle lesen, damit der Durchschnitt hält.
Wie kommt dieser hohe Wert zustande?
Wir fragen bei der Media-Analyse nach und erhalten als Antwort: Cafés, Arztpraxen, WGs. Dort werden die Zeitungen offenbar gemeinsam von vielen Menschen gelesen.
Klingt logisch. Wer kennt’s nicht: Man sitzt mit 39 Grad Fieber im Wartezimmer beim Arzt und sucht unter den 50 Autorevues aus dem vorigen Jahrhundert („Ottomotor: Die Zukunft?“) und 100 vergilbten Gala-Heftchen („Lady Diana: Liebesurlaub in Paris“) verzweifelt den Kurier heraus. Und sobald man ihn liest, wollen gleich 2,2 andere Patient:innen mitlesen, die ebenfalls zufällig ihre Handys vergessen haben, und deshalb Zeitung lesen müssen. Nervig!
Auch die hohe Mitlesezahl des Standards ist einfach zu erklären. Es werden zwar nur 54.212 Exemplare gedruckt. Doch ein Standard, der im WC in einer der 54.011 Studierenden-WGs aufliegt (minus 200 Wiener Kaffeehäuser und einer Kassenarztpraxis, Anm.), wird pro Woche und drei Studipartys, auf denen insgesamt 83 Menschen zu Gast waren, von neun Leuten während des Stuhlgangs komplett ausgelesen. Einfache Arithmetik.
Beliebte Café-Lektüre
Fakt ist, dass Kaffeehausbesucher:innen lieber zum Standard als zur Presse greifen, passt doch der Standard farblich besser zum Lachsbrötchen als die äußerlich blaue und inhaltlich türkise Presse. Und mit einer Krone will nun wirklich niemand im Landtmann gesichtet werden. Wer im Café freiwillig zu einer Oe24 greift, wird ohnehin automatisch von einem Ober besachwaltet.
Ganz schlecht schaut es sowieso für die Umsonstzeitungen Oe24 und Heute aus. Diese werden nur von etwa 1,5 Menschen gelesen, dafür aber von 24,2 Menschen „nach dem Lesen am Klo ebendort auch für andere Zwecke genutzt“. Auch hier hat die Media-Analyse eine Erklärung parat: Die stärkere Marke von Qualitätsmedien bleibt länger in Erinnerung, Gratis-Medien vergisst man quasi gleich nach dem Lesen wieder, heißt es. Das sind doch schöne Nachrichten!
Absolut neutral
Um jeden Interessenkonflikt zu vermeiden, wird der Verein „ARGE Media-Analysen“ als „neutrale Institution“ (Zitat: Website) von den Medien selbst finanziert. So entstehen keine falschen Anreize. Falsche Anreize könnten eine bewusst ungenaue Methodik zur Folge haben, eine Methodik, die womöglich sogar Online- und Printreichweite vermischt.
Nur einer Analyse, die von den Medien selbst finanziert wird, kann man vertrauen. So wie einer Beschwerdestelle gegen Polizeigewalt, die von der Polizei betrieben wird.
Denn bei einer Sache können wir uns sicher sein: Würde mit der Methodik irgendwas nicht stimmen, wären die Printmedien als Beschützer von Demokratie, Anstand und Integrität garantiert die allerersten, die aufschreien, den Finger in die Wunde legen, nichts totschweigen. Es ist ja nicht so, als würden sie von Inseraten profitieren.
Kein Bildmaterial
Zur Bebilderung dieses Artikels durchsuchten wir sämtliche Stockfotobörsen nach lebensnahem Bildmaterial. Doch aus irgendeinem Grund gibt es keine Fotos von Menschenmassen, die sich um eine Zeitung scharren. Merkwürdig, dabei ist so ein Vorgang laut Media-Analyse ja völlig alltäglich. Daher müssen wir leider zu KI greifen:
Rettungsaktion
Sie sehen: Print ist die Zukunft. Alles ist super. Und wir helfen mit. Die Tagespresse ruft zum Gruppenlesen im Ernst-Happel-Stadion auf. Die Redaktion stellt je ein Exemplar jeder Tageszeitung zur Verfügung, das dann von 50.000 Menschen gleichzeitig gelesen wird. So lassen wir die Zahlen der nächsten Media-Analyse explodieren und ermutigen die Regierung zu einer Flut an Inseraten.
Leider werden die Regierungsinserate dadurch empfindlich teurer – je mehr Blickkontakte, desto mehr kosten sie. Die gute Nachricht: Die Regierung erreicht dadurch wieder mehr Menschen, die sie darüber informieren kann, was für eine tolle Arbeit sie leistet.
P.S.: Eine kleine Bitte in eigener Sache: Drucken Sie diesen Artikel aus, kleben Sie sich ihn auf die Stirn und spazieren Sie so durch die nächste Fußgängerzone, um unsere Reichweite zu vervielfachen. Danke.
Erhalten Sie neue Artikel per E-Mail.
„Wenn man die Daten nur lange genug foltert, gestehen sie alles!“
Aus: Andreas Diekmann, Empirische Sozialforschung, Seite 717
@Tagespresse, rein Informativ wärs schon interessant welche Auflage diese hat ?